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Extremberufe: Immer den Tod im Nacken

Bomben suchen, Leichen bergen, Leben retten: Manche Menschen arbeiten ständig in Extremsituationen. Wie bereiten sie sich darauf vor?
Eine alte russische Bombe liegt unter Wasser
Alte Bomben bergen und entschärfen: Für manche Menschen gehört es zum Job, ihr Leben aufs Spiel zu setzen.

Im Bodensee ist Thomas Weller schon zu alten Schiffswracks getaucht, hat die Welt unter Wasser erforscht. Doch sein Job als Polizeitaucher ist weniger beschaulich. Wenn der 53-Jährige im Neckar arbeitet, ist die Sicht so trüb, »als würde man in einen Cappuccino blicken«. Und hier sucht er nicht nach Schiffswracks, sondern nach Bomben. Wenn er Munition birgt, kann ihn eine falsche Bewegung das Leben kosten.

Daniela Weismeier-Sammer hingegen rettet ehrenamtlich Leben. Die Notfallsanitäterin reanimiert, versorgt Wunden und schult Kolleginnen und Kollegen im Umgang mit solchen Extremsituationen.

Weismeier-Sammer und Weller sind keine Einzelfälle, sondern arbeiten in Berufen, die sehr viel von ihnen verlangen – unter anderem, ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen. Wie gehen sie damit um? Wie meistern sie Situationen, auf die man sich nicht wirklich vorbereiten kann? Und haben sie sich jemals gefragt, ob sie für den Beruf geeignet sind?

Die Notfallsanitäterin antwortet, sie habe eine realistische und unverklärte Vorstellung davon gehabt, was sie erwarten würde. »Ehrlich gesagt habe ich mir die Frage nicht gestellt«, sagt der Polizeitaucher. »Da ich schon in allen möglichen Gewässern unterwegs war, dachte ich, das kriege ich hin.« Ob man wirklich dafür geeignet ist, zeige sich erst, wenn man zum ersten Mal mit einer herausfordernden Situation konfrontiert ist. Kollegen von ihm hätten schon mit dem Tauchen aufgehört, weil sie psychisch überfordert waren, erzählt Weller. In ihrem Job als Polizeitaucher müssen sie nicht nur nach Munition, sondern auch nach Tatwaffen und nach Leichen suchen.

Thomas Weller | Der Polizeitaucher bereitet sich auf einen Tauchgang im Neckar vor.

Wie wir unter Stress reagieren, ist höchst unterschiedlich. Ob wir bei beruflichem Stress zum Beispiel einen Burnout entwickeln, liegt laut einer Studie mit schwedischen Zwillingen zu einem Drittel in den Genen. Aber das konkrete Verhalten in Stresssituationen spielt eine größere Rolle, wie Forschende der University of New South Wales in Australien 2017 berichteten. Sie fassten 21 Langzeitstudien zusammen, die Eignungstests für Rettungssanitäter, Polizisten oder Feuerwehrmänner und -frauen untersucht hatten. Ergebnis: Ob jemand beispielsweise eine Posttraumatische Belastungsstörung ausbildete, hing weniger von psychischen Vorerkrankungen ab als davon, wie die Person auf Stress reagierte. Wenn sich zum Beispiel Feuerwehrleute vor den Einsätzen die schlimmsten Katastrophen ausmalten, litten sie mit der Zeit eher an Symptomen einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Auch ein zu selbstkritischer Blick schadete eher. Achtsamkeit hingegen, also seine Gedanken wahrzunehmen und sie nicht wegzuschieben, führte bei angehenden Polizisten zu weniger depressiven Reaktionen.

»Man muss dafür sorgen, dass auch beim Training etwas auf dem Spiel steht«Raôul Oudejans, Sportwissenschaftler an der Freien Universität Amsterdam

Der Sportwissenschaftler Raôul Oudejans von der Freien Universität Amsterdam hat gemeinsam mit einem Kollegen untersucht, wie sich Polizisten in kritischen Situationen verhalten. Die eine Hälfte sollte auf eine Puppe schießen, die andere Hälfte auf Menschen in Schutzausrüstung, die zum Teil zurückschießen konnten. Das alles natürlich mit harmloser Munition – allerdings konnte ein Treffer durchaus schmerzhaft sein. Die Polizisten, die mit Gegenwehr rechnen mussten, trafen zunächst etwas schlechter: Sie machten sich laut Oudejans Sorgen, wie sie aus der Situation herauskommen könnten; ihr Blick war »überall, aber nicht auf dem Ziel, auf das sie schießen sollten«. Doch bei einem späteren Test hatten sie ihre Leistung stärker verbessert als jene, die angstfrei üben konnten.

Wie bleibt man in solchen Situationen konzentriert? Laut Thomas Weller hilft es, den Atem zu kontrollieren. Der Polizeitaucher bedient sich dabei Tricks aus dem Apnoe-Tauchen, dem Tauchen ohne Geräte. Die Übungen dazu könne man »im Fernsehsessel üben«, etwa mit speziellen Apps: vier Sekunden einatmen, vier Sekunden ausatmen. Bei jedem weiteren Atemzug dann länger ausatmen. So könne man einerseits länger die Luft anhalten, anderseits den Blutdruck senken.

Kanadische und finnische Forschende schauten sich an, ob Spezialeinheiten der Polizei dank Atemübungen entspannter mit extremen Situationen umgingen. Sie sollten kontrolliert atmen – also fünf Sekunden ein- und fünf Sekunden ausatmen, während sie zum Beispiel von Mordfällen hörten, die Schauspielende zuvor eingesprochen hatten. Je mehr Tage sie so trainiert hatten, desto langsamer wurde ihr Herzschlag beim Zuhören. Das Fazit der Forschenden: Zumindest in simulierten Situationen schien ein solches Atem-Training zu helfen.

Proben für den Ernstfall

Doch Atemübungen sind nur eine Methode, sich auf Extremsituationen vorzubereiten. Noch wichtiger für Notfallsanitäter und Polizisten, ebenso wie für Profisportler: Erfahrung unter größtmöglichem Druck zu sammeln. Der Basketballspieler Michael Jordan etwa sorgte selbst dafür: »Er suchte nach Situationen, die ihn herausforderten«, erzählt Oudejans. »Also wettete Jordan im Training auf alles – beispielsweise ob er es schaffen würde, von der Dreipunktelinie einen Korb zu werfen.« Eine kluge Strategie, wie der Sportwissenschaftler erklärt: »Man muss dafür sorgen, dass auch beim Training etwas auf dem Spiel steht.«

Im Sport geht es »nur« um den Gewinn einer Meisterschaft. Für Polizei, Feuerwehr und Sanitätsdienste geht es um Leben und Tod. Deshalb proben auch sie für den Ernstfall.

Übungsleiterin Daniela Weismeier-Sammer schildert, wie das konkret aussieht: Fahrzeuge sind gegeneinandergefahren, Menschen schreien, manche bluten. Im Fachjargon spricht man von der »Chaosphase« – jenen Momenten, in denen Sanitäter und Feuerwehr am Unfallort ankommen und die Situation noch unklar ist. Sie müssen schnell entscheiden: Welche Opfer können noch laufen, wer ist stark verwundet, wer braucht unmittelbar Hilfe? Weismeier-Sammer beobachtet, wie sich das Team aufteilt, die Sanitäter die Wunden versorgen oder die Feuerwehr ein Auto mit Hydraulikscheren aufschneidet. Doch die Insassen sind Puppen, die Verwundeten nur ehrenamtliche Helfer und ihre Wunden geschminkt.

Virtuelles Training | Die Notfallsanitäterin Daniela Weismeier-Sammer kniet vor einer Übungspuppe.

Die Notfallsanitäterin und ihr Team haben dieses Szenario für das Forschungs- und Innovationszentrum der Johanniter über Monate geplant. Es kostet Geld und »massive Ressourcen« an Personal – und das alles, »damit eine Hand voll Menschen üben können«, erzählt die Übungsleiterin. So können die Einsatzleitenden der Johanniter proben, im Notfall eine große Zahl von Menschen zu versorgen, und ihr theoretisches Wissen in der Praxis anwenden. Zum Beispiel sollten sie ihr Team nicht in einen Tunnel schicken, solange dieser nicht als sicher eingestuft wurde. Erst muss die Feuerwehr bei einem möglichen Brand mit Atemschutz die Lage überprüfen. So schützen die Leitenden ihr Team vor möglichen Gefahren.

Laut Oudejans sind diese Übungen enorm wichtig. Polizisten etwa können zwar auf den Übungsplatz gehen, um Schießen zu trainieren. Aber echte Situationen sehen ganz anders aus: Menschen schreien, es herrscht Chaos – wie in der Übung von Weismeier-Sammer. Wenn die Polizisten unter solchen Bedingungen trainieren, entwickeln sie mit der Zeit mehr Selbstbewusstsein, erklärt Oudejans. Und das hilft ihnen dann dabei, ruhig zu bleiben, wenn es wirklich mal brenzlig wird.

Deswegen wirkte Oudejans am so genannten Shotpros-Projekt der Europäischen Union mit: Mit Hilfe von virtueller Realität wurde dort unter anderem untersucht, wovon sich Polizisten in Gefahrensituationen beeinflussen lassen. Weismeier-Sammer arbeitet für Med1stMR, das Ersthelfer unterstützen soll: Einsatzleitende können in der virtuellen Realität beispielsweise in einen Tunnel gehen, dort Opfer versorgen und ihr Team koordinieren. Außerdem entwickelt sie Übungspuppen mit, die durch die virtuelle Brille betrachtet wie echte Menschen erscheinen, eingebettet in ein Szenario aus zerstörten Fahrzeugen und schreienden Zeugen.

»Für den Übungserfolg ist es entscheidend, dass die Teilnehmenden direkt in die kritische Situation eintauchen«, erklärt Weismeier-Sammer. Auch Oudejans sieht in den virtuellen Übungen viele Vorteile. So lasse sich etwa jede Aktion nachvollziehen, nachbesprechen und bei Bedarf auch abwandeln und wiederholen.

Situationen, für die man nicht üben kann

Notfallsanitäterin Daniela Weismeier-Sammer

Weismeier-Sammer sagt, dass vor allem jene Situationen Stress bei ihr auslösen, bei denen sie nicht weiß, was sie erwartet. Wie im Jahr 2022, als die ehrenamtliche Notfallsanitäterin zu einem Einsatz gerufen wurde: »Atemgift versprüht in einem Linienbus.« Sie fuhr an den Unfallort. Handelte es sich womöglich um einen terroristischen Anschlag? Glücklicherweise stellte sich schnell heraus, dass niemand ernsthaft zu Schaden gekommen war.

Thomas Weller sagt, er habe sich beim Bergen einer Bombe noch nie davor gefürchtet, dass etwas passieren könnte. Er vertraue den Kollegen vom Kampfmittelbeseitigungsdienst, mit denen er seinen Einsatz bespricht. Selten sei die Munition so gefährlich, dass man sie noch unter Wasser sprengen müsse.

»Erst danach denke ich darüber nach, was das für die Angehörigen bedeutet«Thomas Weller, Polizeitaucher

Eine andere Situation habe ihn mehr unter Stress gesetzt, erzählt er. Vor einigen Jahren gab es ein Hochwasser, und ein junger Mann starb in der Kanalisation, nachdem ihn der Wasserdruck dort hineingesogen hatte. Ein Feuermann, der ihn retten wollte, kam dabei ebenfalls ums Leben. Am Folgetag versuchten Weller und ein Kollege, die Leichen zu bergen, während noch Hochwasser herrschte. Eine Vorrichtung sollte das Wasser von dem Ort in der Kanalisation fernhalten, an dem die Leichen lagen. Aber würde sie tatsächlich halten? Wenn nicht, würde sich der Schacht blitzartig mit Wasser füllen. Es ging alles gut: Sie stiegen eine Eisenleiter hinunter, fanden die Leichen und banden sie fest, so dass die Feuerwehr sie hochziehen konnte.

Was Weller bei dem Einsatz empfunden hätte? »In dem Moment nichts«, erzählt der Taucher. »Erst danach dachte ich darüber nach, was das für die Angehörigen bedeutet.« Nach den Einsätzen sind manchmal Kriseninterventionsteams vor Ort, die das Geschehene nachbesprechen, oder die Einsatzkräfte können später bei Bedarf mit Psychologinnen oder Psychologen von der Polizei reden. Das helfe beim Verarbeiten.

Solche Maßnahmen hält Kerstin Alfes von der Berliner ESCP Business School für enorm wichtig. Das Team um die Ökonomin befragte während der Corona-Pandemie rund 650 Notfallsanitäterinnen und -sanitäter, die ständig fürchten mussten, sich anzustecken, und beinahe täglich mit dem Tod konfrontiert waren. Eines der Ergebnisse: Je stärker das Gefühl, von ihrem Arbeitgeber unterstützt zu werden, desto besser konnten sie mit dem Stress in den Extremsituationen umgehen. Dabei helfe es laut Alfes zum Beispiel schon, wenn der Vorgesetzte sagt: »Ich verstehe, dass dies eine Ausnahmesituation ist. Ich bin dankbar, dass ihr euch da hineinbegebt.«

Den Befragten zufolge ist es auch von Vorteil, den Arbeitsrhythmus anpassen zu können. Eine Person sagte etwa, dass sie manchmal zu viele Arbeitstage hintereinander im Einsatz war: Drei Tage wären noch auszuhalten, der vierte nicht mehr – dann sei der Kopf einfach leer. Laut Alfes sollten Vorgesetzte überlegen: Wer ist gerade in der Lage, beim Einsatz weiter mitzuarbeiten? Wen muss ich vielleicht eine Weile rausnehmen? Nur fänden solche Überlegungen aus Personalmangel oft nicht statt. »Aber die Vorgesetzten müssen dafür sorgen, dass wenigstens keiner Angst hat, so etwas anzusprechen.«

Laut Alfes hilft es den Menschen in Extremberufen wie in vielen anderen Jobs, wenn sie eine Neigung für die Tätigkeit mitbringen und sich mit der Arbeit identifizieren. Ihr Potenzial könnten sie jedoch nur entfalten und schwierige Situationen meistern, wenn sie auf den Rückhalt ihres Arbeitgebers vertrauen können.

Viel im Einsatz zu sein, sich einer Situation möglichst oft zu stellen: Das hält Alfes für wenig hilfreich. Ab einem gewissen Punkt steige die Stresstoleranz nicht mehr, sondern falle vielmehr ab. Im schlimmsten Fall könne sogar ein Burnout drohen. Um dem vorzubeugen, sei es wichtig, den Einsatz nachzubesprechen: damit die Mitarbeitenden erzählen können, wie es ihnen ergangen ist.

»Die Aufregung wird weniger, aber sie darf nie zu weit abfallen«Daniela Weismeier-Sammer, Notfallsanitäterin

Private Gespräche können ebenfalls eine große Hilfe sein. Weismeier-Sammer hatte nach ihrer ersten Reanimation ein starkes Bedürfnis, darüber zu sprechen. Die Patientin war in ihrem Alter gewesen und nach der Reanimation im Krankenhaus verstorben. Die Sanitäterin fand in ihrem Umfeld Hilfe und Verständnis: Auch ihr Mann ist Notfallsanitäter, ebenso ein großer Teil ihrer Freunde. Sie konnten mitfühlen. »Wenn man gut in ein soziales Netz aus Kolleginnen und Kollegen eingebunden ist, dann hilft man sich gegenseitig«, erklärt sie.

Auch Polizeitaucher Weller hat eigene Mittel und Wege, mit den Belastungen umzugehen. Manchmal muss er in seinem Job Wasserleichen bergen. Nach nur wenigen Wochen könne er sich an die Bilder der Leichen nicht mehr erinnern, sagt er. »Das wird wohl eine Art von Schutzreflex sein.« Ob er sich an den Beruf gewöhnt habe? »Leichter ist es nicht«, sagt Weller, »aber man wird routinierter.« Man habe die Abläufe gelernt, kenne das Team, und mit der Zeit spiele man sich ein.

Bei Weismeier-Sammer ist es ähnlich. »Die Aufregung wird weniger, aber sie darf nie zu weit abfallen«, erzählt sie. »Meine Kollegen und ich sind in jeder entsprechenden Situation sofort angeknipst, selbst bei der 40. Reanimation.« Das funktioniere jedoch nur durch regelmäßiges Training und gute Vorbereitung.

Das Ziel ist laut Forscher Oudejans gar nicht, die Nervosität abzulegen. »Es geht darum, trotz Nervosität das abzuliefern, was man gelernt hat.«

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